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Reliquie

von Horst Sakulowski (1975, überarbeitet 2020)

Graphit, 40 x 57,5 cm / Anmerkungen von Thomas Menges

Die christliche Ikonografie kennt unzählige Darstellungen von Märtyrern. Die Folterknechte verrichten ihr blutiges Un-Werk, doch die unschuldigen Opfer verlieren niemals ihre Würde, weilGott sie bereits ins Recht gesetzt hat. Blutzeugen gibt es noch heute; sie werden getötet, weil sie ihr eigenes Leben für ein gemeinsames Leben in Menschenwürde und Freiheit einsetzen. Märtyrern kann durch ein Bildwerk, das ihr Leid realistisch darstellt und den Betrachter aufzurütteln versucht, ein künstlerisches Epitaph errichtet werden. Einen anderen Weg wählt Horst Sakulowski, der mit dem Graphitstift ein sur-realistisches Blatt entwirft. Vor einem unbestimmten Hintergrund schwebt eine längsgestreifte Jacke. Die Streifen assoziieren die Sträflingskleidung in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Ein Windzug hat die Häftlingsjacke aufgebläht. Sie befindet sich in einem erbärmlichen Zustand und ist in Auflösung begriffen. Der Jackenkragen, der ein dunkles, liegendes Oval umfängt, bildet den Bildmittelpunkt. Darüber befinden sich die beiden ausgebreiteten und leicht angehobenen Ärmel. Jacke und Ärmel bilden die Form eines Tau-Kreuzes, dem jedoch sein Corpus abhandengekommen ist. Der Künstler gibt drei diskrete Hinweise auf die Kreuzigung Jesu Christi: Es sind die beiden Schraffuren dort, wo die beiden Ärmel abgeknickt sind, sowie der dunkle Fleck links unten auf der Jacke; sie repräsentieren die Wundmale an den Händen und den Stich in die Seite Christi. Doch von wem ist die schäbige Sträflingsuniform eine Reliquie? Das Bild gibt eine eindeutige Ant-wort: Auf der rechten Jackenaußenseite ist ein Stoffschild mit der Nummer 49642 befestigt. Wem wurde diese Nummer zugeteilt? Der Name des Häftlings mit der Nummer 49642 ist Richard Henkes (1900-1945). Der aus dem Westerwald stammende Pallottiner wirkte auch in Schlesien, wo er in mutigen Predigten die NS-Ideologie als antichristlich kritisierte. Er wurde verhaftet und in das KZ Dachau verbracht, wo er Zwangsarbeit leisten musste. Als dort Ende 1944 eine Typhusepidemie ausbrach, ließ er sich impfen und freiwillig in einen Quarantäneblock einschließen, um Schwerkranken und Sterbenden als Pfleger und Seelsorger beistehen zu können. Richard Henkes infizierte sich und starb kurz vor der Befreiung des KZ. Seine Asche wurde kurz nach Kriegsende auf dem Pallottinerfriedhof in Limburg beigesetzt. Seine Seligsprechung fand am 17. September 2019 im Dom zu Limburg statt. Pater Henkes, der sich nach dem Krieg für die Versöhnung von Deutschen und Tschechen enga-gieren wollte, wurde zu einem unfreiwilligen Märtyrer. Horst Sakulowski, der lange mit der künst-lerischen Gestaltung des Themas gerungen hat, wollte kein realistisches Bild etwa eines siechen Typhustoten schaffen. Vielmehr hat er mit einem surrealen Gedenkblatt des aufrichtigen Geist-lichen gedacht. Von außerhalb des Bildes fällt ein heller Lichtstrahl in das Oval, wo sich der Kopf des Paters befinden müsste; zudem trägt seine Jacke die Wundmale Christi. Auf diese Weise setzt der Zeichner die göttliche Bestätigung des stigmatisierten Blutzeugen ins Bild.

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